Autorin, Crowdfunderin, Preisträgerin und Aktivistin Judith C. Vogt.
Das gefrorene System
oder
Der Kurd-Laßwitz-Preis-Text, den ich seit Wochen schreiben will
Ich bin Genre-Autorin aus Leidenschaft – und Genre heißt in diesem Fall: Science-Fiction und Fantasy. Und als Genre-Autorin komme ich nicht umhin, mir Gedanken um die Strahlkraft unseres Genres in der Literaturlandschaft zu machen, und um diese ist es in Deutschland eher schlecht bestellt. Die Strahlkraft ist die einer Taschenlampe mit altersschwacher Batterie.
Warum das so ist, wäre einen eigenen Artikel wert (weiter unten noch ein paar Gedanken dazu), was jedoch auch zum Thema „Strahlkraft“ gehört, sind die SFF-Preise im deutschsprachigen Raum, und ja, auch darum mache ich mir ab und an Gedanken. Wer sie kriegt, was sie aussagen, wie sie wahrgenommen werden. Nicht, weil ich sie gern verliehen bekommen würde (natürlich sage ich dazu nicht Nein, und es ist immer wieder aufregend, auf Shortlists zu stehen oder gar so eine Auszeichnung in den Schrank stellen zu dürfen). Vor allen Dingen interessieren mich die Preise, weil sie symptomatisch ausdrücken, was in der Literaturszene schon immer vorherrscht: Männer werden besser behandelt als Nicht-Männer.
Nein, ich sage nicht, dass männliche Autoren es immer leicht haben. Dass es automatisch zum Erfolg führt, männlich zu sein. Dass Männer nicht gut sein müssen und nicht dranbleiben müssen, um sich hochzuarbeiten. Dass männliche Genre-Autoren nicht damit zu kämpfen haben, dass Fantasy und Science-Fiction die Relevanz und die Aussagekraft aberkannt werden.
Aber das System des Literaturbetriebs redet sich ein, dass alle Schreibenden gleich behandelt würden, denn es gibt keine breit diskutierten Fälle von offenem Sexismus gegenüber beispielsweise weiblichen Autorinnen. Und deshalb, so die logische Schlussfolgerung, können die großen „Meister der Phantastik“ nicht das generische, sondern das spezifische Maskulinum nutzen, denn offenbar schreiben sie halt einfach besser. Niemand kann etwas daran ändern.
Demzufolge werden Männer häufiger für Preise nominiert. Erhalten diese Preise öfter. Erhalten das Werbebudget und die A-Plätze. Werden mehr gelesen. Erhalten mehr Geld. Alles gerecht und gerechtfertigt, denn der Markt regelt das.
Und Sexismus ist nur dann Sexismus, wenn es sich um eine offene Abfuhr an eine Frau handelt, beispielsweise so: „Nee, ich nehme lieber den Kollegen, der ist ein Mann und schreibt männlich, und nichts anderes brauchen wir, geh rüber zur Romantasy, Frau, grarrgrarr!“ Und da das nie so offen gesagt wird, gibt es offenbar in der Branche keinen Sexismus. Und außerdem arbeiten in Verlagen ja auch sehr viele Frauen, und die wären ja ganz schön dumm, wenn sie sexistisch agieren würden, oder?
Aber jetzt hab ich einen fiesen Spoiler: Sexismus ist ein System, und als Teil des Systems ist sowohl die Literaturbranche sexistisch als auch die Genres, in denen ich mich herumtreibe. (Wer mehr darüber lesen möchte, dem sei das Buch How to Suppress Women’s Writing von Joanna Russ empfohlen, die in den Achtzigern en détail erklärte, warum Schriftstellerinnen in Literaturkanons, auf Uni-Leselisten und bei Literaturpreisen unterrepräsentiert sind. Leider hat sich wenig getan seit den Achtzigern und das Buch ist nach wie vor absolut zutreffend und aktuell!)
Nichtmännliche Autor*innen werden abgewertet. Sie werden weniger gefördert, weniger beworben, erhalten schlechtere Programmplätze, schlechtere Bezahlung und kommen weniger voran als ihre männlichen Kollegen. Und dass dann Preise an die gehen, die besser im Verlag betreut wurden, die im Groß- statt im Kleinverlag veröffentlichen, das ist doch logisch, oder?
Mein Roman war dieses Jahr für den Phantastikpreis Seraph nominiert. Ich habe das zum Anlass genommen, eine Runde #Frauenzählen durchzuführen. Obwohl die Hauptkategorie mit fünf männlichen Ausgezeichneten und drei weiblichen halbwegs ausgeglichen ist, waren auf den Shortlists der vergangen acht Jahre mehr als dreimal so viele Männer wie Frauen vertreten. In der Indie-Kategorie hingegen wurden vor allem Frauen nominiert, und auch alle Siegerinnen dieser Kategorie waren Frauen.
Versteht mich nicht falsch: Das ist kein Vorwurf an die Seraph-Jury. Es spiegelt lediglich wider, dass Romane von Frauen weniger einfach in die SFF-Programme großer Verlage kommen. Und ja, natürlich gibt es auch viele Selfpublisher*innen, die aus Überzeugung unabhängig veröffentlichen, nicht jede*r will einen Programmplatz im Großverlag. Aber per Indie-Publishing ins Bewusstsein einer größeren Öffentlichkeit zu gelangen, ist beinahe Sisyphusarbeit, und da schließt sich der Kreis wieder: Weniger Publikum, geringere Verkaufszahlen, geringerer Grund für die Verlage zu sagen: „Oh, tolles Projekt, das unterstützen wir stärker!“
Und weil dann fast nur männliche Namen auf Stapeln in großen Buchhandelsketten liegen, entsteht der Eindruck, dass a) Frauen halt nicht so gern Science-Fiction und Fantasy schreiben, denn das interessiert die nicht so sehr, und b) Frauen das halt nicht so gut können.
Das führt dazu, dass nach den männlichen Namen gegriffen wird, und ja, dass mehr Männer für Preise nominiert werden. Und wenn dann doch mal eine Frau nominiert wird, greift das Schlumpfine-Syndrom: „Sie ist ja nicht wie die anderen. Sie ist besser. (Will heißen: Sie schreibt wie ein Mann.)“
Und das sind alles sexistische Doppelstandards, und wir müssen endlich mal den Arsch hochkriegen und daran wackeln! UNKNOWN ist ein guter Anfang.
Aber auch die Organisator*innen der Preise dürfen sich nicht ausnehmen und hoffen, dass der Markt oder die „neutrale und objektive“ Meinung der Bewertenden das schon regelt. Wieder ein Spoiler: Es gibt keine neutrale und objektive Meinung. Und wir sind alle sexistisch durchseucht. Ja, auch Frauen. Ja, auch ich.
Einer meiner Romane war in diesem Jahr für den Kurd-Laßwitz-Preis nominiert. Ich war die einzige Schlumpfine, ähm, Autorin auf der Shortlist. Ein männlicher Autor war sogar zweimal nominiert, was eine Rezensentin eines SFF-Onlineportals zur spitzen Aussage verleitete, dass man eher einen Mann zweimal nominiert als sich nach einer zweiten Science-Fiction schreibenden Frau umzusehen. Fast alle Titel waren in großen Verlagen veröffentlicht. Auf der Website des Preises begrüßt eine phallusförmige Rakete die geneigten Lesenden.
Ich begann, ein bisschen zum Preis zu recherchieren, und stieß auf die Liste der Preisträger*innen in der Hauptkategorie (eigentlich ist es fast unnötig, dieses Wort zu gendern!). Der Preis ist exakt so alt wie ich, und in den vergangenen fast vierzig Jahren wurde ein einziges Mal eine Frau ausgezeichnet: Gudrun Pausewang, in den Achtzigern. Weil ich bei so etwas mittlerweile nicht mehr an mich halten kann, schrieb ich eine Mail an den Organisator und fragte nach, ob sie ihren Nominierungsprozess vielleicht verändern wollen würden, um auch Autor*innen Aufmerksamkeit zu schenken, die sonst unter dem Radar fliegen – denn anders könne ich mir diese Statistik nicht erklären. Nach einigem Hin und Her, in dem ich Näheres zum absolut nicht änderbaren Wahlverfahren der Abstimmungsberechtigten erfuhr, kam schließlich die entscheidende Information: In vielen Bereichen des Lebens, so der Organisator, befänden sich Frauen eben im Mittelfeld, während die herausragend guten, aber auch die gnadenlos schlechten Plätze von Männern belegt würden. Das wäre auch in den Naturwissenschaften und vielen anderen Bereichen des menschlichen Lebens der Fall, und offenbar ebenfalls in der Literatur.
Ich muss euch hier leider erneut spoilern: Die Tatsache, dass Frauen und andere Nicht-Männer in vielen, vielen, vielen Bereichen des Lebens nicht auf den „herausragend guten“ Plätzen sitzen, liegt nicht daran, weil wir’s nicht draufhaben. Es liegt am System. Und ja, dass die meisten dieser Plätze von weißen, heterosexuellen, Cis-Männern besetzt werden, liegt daran, dass wir in einem inhärent rassistischen, queerfeindlichen, sexistischen System leben. Und ja, man kann das eine nicht ohne das andere denken, dieses System existiert, es hat jahrhundertelange Auswirkungen auf alle Bereiche des Lebens und ist der Grund dafür, warum Frauen, Nicht-Männer und People of Color nicht gerade mit gewonnen Literaturawards um sich schmeißen können. Es liegt nicht daran, dass beispielsweise Frauen halt nun mal von Geburt an schlechter schreiben können, denn das ist so sexistischer Müll, dass Joanna Russ sich gerade im Grab herumwälzt!
Wer diese strukturellen Benachteiligungen nicht sieht, hat das Privileg, sie nicht sehen zu müssen. Um tatsächlich etwas zu verändern, braucht es eine aktive Positionierung in dieser Sache. Es braucht den Willen, etwas am Status quo zu tun.
Wenn wir zu den Genrepreisen in den USA schauen, sehen wir, dass sich da einiges getan hat. Vor zehn Jahren gab es in der englischsprachigen SFF die „Racefail“-Debatte und wenige Jahre später den Versuch, Nicht-Männer, People of Color und andere Autor*innen mit sogenannter politischer Agenda aus den Nominierungslisten der Hugo-Awards zu ekeln (die Initiatoren nannten sich Sad bzw. Rabid Puppies). Seitdem sind die Hugos in allen Kategorien divers wie nie und die englischsprachige Fantasy und Science-Fiction hat an Relevanz deutlich dazugewonnen. (Übrigens wies mich der KLP-Organisator darauf hin, dass beispielsweise die internationale Kategorie des KLP wesentlich ausgeglichener ist. Klar, weil hier das gefrorene System bereits angetaut und umgestaltet wurde und sich das auch im deutschsprachigen Raum nicht übersehen lässt, wenn es um erfolgreiche Titel aus den USA geht!)
„Racefail“ war eine laute und hitzig geführte Debatte zwischen Autor*innen und dennoch laut der schwarzen Dreifach-Hugo-Gewinnerin N. K. Jemisin das Beste, was der Literaturlandschaft passieren konnte.
„But that’s how solidly frozen SFF has been: eyes locked on the stars, face turned resolutely forward, neck too stiff […]. For fifty years. Until RaceFail turned up the heat.
We’re still in that warming period for now […] When the inevitable refreezing occurs, I have no idea what the new SFF will look like. Browner, definitely. A little more reflective and humble, hopefully. I suspect it will both resemble other literary fields to a greater degree, and yet continue to subvert them as it should — because this is still the literature of ideas and myths, the subconscious made concrete.“
Ich weiß, dass es unangenehm ist, diese Dinge zu lesen. Zu akzeptieren, dass das System ein Scheißsystem ist und das Literaturpreis-Spiel strukturell gezinkt. Ich weiß, dass viele von euch es unsolidarisch finden, Aufmerksamkeit zu fordern und unbequem und laut zu sein. Aber wir müssen das tun. Die USA haben es seit zehn Jahren hinter sich – wie viel länger wollen wir noch warten?
Science-Fiction und Fantasy sind die einzigen Genres, in denen wir über unsere gesellschaftlichen und historischen Wahrheiten hinausdenken können. Sie sind die Genres, in denen wir Ideen ausdrücken können, die in der realen Welt noch nicht möglich sind. Diese Ideen können nicht nur von Männern stammen. Sie dürfen nicht nur von Männern stammen.
Und diese Verantwortung, Zukunft und Spekulation zu denken und an ein Publikum zu übergeben, liegt nicht allein bei den Autor*innen. Sie liegt bei den Verlagen, bei den Buchhandlungen – und ja, auch bei den Organisationen von Preisen. Sagt nicht: „Das war schon immer so“, sagt nicht: „Das ist halt eben so“ und „Das regelt sich von selbst.“ Das alte System wird nicht dafür sorgen, dass etwas geschieht, was seine Existenz gefährdet! Wenn wir eine Veränderung wollen, müssen wir sie aktiv ins Spiel bringen. Für diese Veränderung einstehen. Unbequem sein. Laut. Und ein bisschen subversiv (wie UNKNOWN!). Und ja, diese Veränderung kann nicht nur von unbekannteren nichtmännlichen Autor*innen ausgehen. Bei dieser Veränderung müssen alle dabei sein, denn wir stecken alle zusammen im Chaos sinkender Verkaufszahlen und vermeintlich sinkender gesellschaftlicher Relevanz.
Fangen wir also an.
Judith C. Vogt