Autor, Sprecher und Freund fürs Leben: Carsten Steenbergen.
Von zu kleinen und zu großen Betten
Der altgriechische Geschichtsschreiber Diodor erzählte einst vom Riesen Prokrustes, der Reisenden eines seiner Betten aufzwang. Waren die Unglücklichen zu groß für das Bett, so hackte er ihnen die Füße ab, waren sie zu klein, streckte er sie und hämmerte sie auf seinem Amboss so lange zurecht, bis sie hineinpassten. Unnötig zu erwähnen, dass die Übernachtungsgäste anschließend nie weiterzogen – bis Theseus dem unfeinen Verhalten des Prokrustes ein Ende bereitete.
Wenn der Riese weniger Spaß an seinem Tun gehabt hätte und weniger faul gewesen wäre (ja, ich weiß, hacken und strecken ist auch anstrengend), dann hätte er den Reisenden auch neue, passende Schubl… äh, Betten bauen können.
Grundsätzlich besitzen Schubladen einen gewissen Vorteil: Mit ihnen kann man das Chaos um einen herum besser ordnen. Selbiges gilt für Denkschubladen: Das Gehirn reduziert die Informationslast auf bereits Bekanntes, nutzt eigens angelegte Stereotype und hilft damit, schnelle Entscheidungen zu treffen. Frau/Mann, gut/schlecht, gefährlich/harmlos … Denken in Kategorien ist gewissermaßen eine Überlebensstrategie. Alles Neue wird gemäß der bisher gemachten Erfahrungen eingeordnet (oder in die Schublade "Keine Ahnung" geworfen). Das ist der einfachste, der nächstliegende Weg – aber sicher nicht immer der hilfreichste. Denn das Gehirn neigt, ökonomisch betrachtet, zu Bequemlichkeit. Und einmal gespeicherte Lernmuster lassen sich nur schwer verändern. Also immer alles rein in die vorgefertigten Schubladen.
Schaut man mal auf die Rückseite mancher Schubladenkategorienschildchen (was für ein schönes Wort), finden sich hier und da geheime Ergänzungen: "Vorurteil" steht da. Oder "Klischee". Auch in diese werden gern mal Fakten, Ansichten und Haltungen geworfen, die man zunächst nicht anders einzuordnen weiß. Zuweilen quellen Sätze wie "Frauen können das nicht" und "Männer sollten dies nicht" heraus, und bisweilen werden Menschen und Meinungen so lange behackt oder gestreckt, bis auch sie in diese Laden passen. Dabei wäre es angemessener, solche Ansichten in den Mülleimer neben der Kategoriekommode zu entsorgen. Und für manch bisher Unbekanntes neue, passende Schubladen anzufertigen.
Das macht womöglich weniger Spaß als Hacken und Strecken. Und ein wenig mehr Arbeit.
Carsten Steenbergen