Ich weiß gar nicht mehr genau, an welchem Tag die Spinne in mein Leben gekrabbelt kam. Sie war wie der Vorbote der Feiertage, der vor dem Winter in mein warmes Haus flüchtete. Sie war so klein und wunderschön, dass ich es nicht übers Herz brachte, sie wieder hinauszuwerfen. Erschlagen war keine Option – immerhin bin ich froh, dass es kein größeres Wesen gibt, das Menschen als Ungeziefer betrachtet und seinen Schuh gegen mich erhebt.
Ich schlug der kleinen Spinne stattdessen einen Deal vor: Sie sollte nachts nicht über mein schlafendes Gesicht krabbeln, dafür würde ich ihr Netz in meiner Zimmerecke nicht anrühren.
Auch wenn sie nicht sprechen konnte, glaubte ich, dass sie sich einverstanden erklärte.
An manchen Tagen beachteten wir einander gar nicht, an anderen saß sie auf der Sofalehne und schaute mir über die Schulter. Lesen mochte sie offensichtlich am liebsten, zumindest sah ich sie am häufigsten, wenn ich ein Buch aufschlug.
Wenn ich ihr eine Freude machen wollte, dann legte ich ein Fruchtstück unter ihr Netz und ließ ein paar Tage lang Fruchtfliegen durch das Wohnzimmer schwirren. Sie kriegte sie alle.
Irgendwann fand ich, dass ich der Spinne einen Namen geben müsse. Auf ihrem festen, glänzenden Körper leuchtete dicht hinter dem Kopf ein roter Strich. Er fiel so herrlich auf, weil sie ansonsten vollkommen schwarz war. Tekla erschien mir zu klischeehaft, Petra zu menschlich. Walpurgia kam mir passend vor. Die alte Hexe von Bibi Blocksberg, die so herrlich von der seligen Monica Bleibtreu gespielt worden war.
Der Spinne schien der Name zu gefallen. Auch wenn sie zu stolz war, sich rufen zu lassen, bilde ich mir ein, dass sie immer in meine Richtung sah, wenn ich sie ansprach.
Weihnachten feierten Walpurgia und ich alleine. Offensichtlich hatte sie auch keine Familie, die sie besuchen konnte, und wenn sie Freunde hatte, dann waren diese sicher ebenfalls fest verplant. So saßen wir in meiner festlichen Stube bei Kerzenschein und brennenden Räucherhütchen.
Ich schenkte ihr eine frische Motte, die ich eigens im Keller gefangen hatte, zum Dank biss sie mir in den Finger. Der Biss selbst tat gar nicht weh, aber die Bauchschmerzen, die daraufhin in meiner Körpermitte zu brennen begannen, wurden bald unerträglich.
Auch wenn sie sehr schuldbewusst aussah, während sie sich den Falter schnappte, hing der Haussegen mächtig schief.
Meinen Festtagsbraten musste ich in der Mikrowelle stehen lassen. Ich wollte Walpurgia eine laute Standpauke halten, aber ich war mehr damit beschäftigt, die Schmerzen wegzuatmen.
Wütend, dass ich bei strömendem Weihnachtsregen das Haus verlassen musste, schleppte ich mich zu meinem Auto und fuhr zum nächsten Krankenhaus. Noch vor der Ankunft fragte ich mich, ob ich alle Kerzen ausgepustet hatte. Nun tat es mir leid, im Streit das Haus verlassen zu haben.
Während mir in der Notaufnahme vom Brandgeruch anderer Notfälle speiübel wurde, kam eine überarbeitete Schwester auf mich zu und fragte, was mir fehle.
»Walpurgia hat mich gebissen«, sagte ich knapp. Die Magensäure brannte in meiner Kehle.
»Ist das Ihr Hund?«
Sie kritzelte auf ihrem Klemmbrett herum und faselte noch was von »Chipkarte« und »Wartezeit«.
Ein Gemisch aus Galle und einem halben Glas Rotwein klatschte schwallartig aus meinem Mund auf den grünlichen Fußboden. Die Brandopfer stöhnten angewidert auf.
Ich hätte ihnen gerne vorgeworfen, dass es an ihrem Gestank läge, aber meine gute Kinderstube verbat mir derartige Unhöflichkeiten.
»Meine Spinne«, nahm ich das Gespräch wieder auf und versuchte, einen um Entschuldigung bittenden Ausdruck auf mein gequält verzogenes Gesicht zu zaubern.
»Ihre Spinne?« Sie sah von dem Kotzfleck zu mir und rief dann Verstärkung herbei.
Mir war keine hiesige Spinnenart bekannt, die eine derartige Hektik begründen konnte, aber wenigstens musste ich den Heiligabend nicht im Wartezimmer verbringen.
Ich sagte was von »allergische Reaktion« und »Walpurgia ist ganz lieb«, damit sie später keinen Ärger bekommen würde, aber ich glaube nicht, dass mir jemand richtig zuhörte. Alles, was die Ärzte interessierte, war die Spinnenart und woher ich die Spinne habe.
Also sagte ich, dass sie mir zugelaufen sei. Eine Schwester zückte ihr Smartphone und gab meine Beschreibung von Walpurgia im Internet ein.
Die anschließende Behandlung brachte Linderung, ich konnte nur nicht verstehen, warum gleich die Polizei gerufen wurde. Meine Güte, wir hatten einen Streit, Walpurgia hatte übertrieben, das kommt in den besten Familien vor!
Sie nahmen mir meinen Haustürschlüssel ab und sagten mir, ein Kammerjäger würde die verlorene Rotrückenspinne wieder nach Hause bringen, sie wäre bereits vermisst worden. Mir gefiel der Tonfall der Schwester nicht. Als wäre ich eine Irre.
Meinen Widerspruch nahmen sie ebenso wenig ernst wie meine Bitte, mich wenigstens verabschieden zu können.
Ich verlangte den zuständigen Polizisten zu sprechen, der Walpurgia nach Hause bringen würde, bekam aber nur zur Antwort, ich solle mich in Geduld üben. Das wollte ich aber nicht, und ich hätte den Tropfständer auch zu Fuß bis nach Hause geschoben – aber sie packten mich und schnallten mich am Bett fest.
Ergeben und traurig lag ich da, meine Nase fing an zu jucken, und ich konnte nicht mal kratzen.
Da kam Walpurgia plötzlich über das Bett gekrabbelt. Sie musste sich in meiner Handtasche oder meiner Jacke versteckt haben. Überglücklich begrüßte ich meine Freundin, die kurz auf meiner Brust anhielt und mich ansah.
Ich bin mir sicher, dass sie sich in diesem Moment für alles entschuldigen wollte.
»Schon gut«, flüsterte ich. »Du kannst dort aber nicht sitzen bleiben. Wenn die dich sehen, dann bringen sie dich weg.«
Walpurgia überlegte einen Moment, dann krabbelte sie weiter, erklomm meinen Hals, tänzelte über meine Wange und kratzte mit ihren schwarzen Hinterbeinen kurz über meine juckende Nase.
»Versteck dich in meinen Haaren«, schlug ich vor.
Unschlüssig verharrte sie.
»Komm schon, es ist ja nicht für lange.«
Es fühlte sich schön an, wie ihre kleinen Beinchen über meinen Nasenrücken tippelten. Sie entschied sich für die Stelle hinter meinem rechten Ohr. Ich würde aufpassen müssen, dass ich mich im Schlaf nicht auf sie legte.
»Weißt du, Walpurgia«, sagte ich glücklich. »Ich habe gehört, wie die Schwester zu dem Polizisten sagte, du seiest eine echte Witwe. Das habe ich gar nicht gewusst.«
Ich hätte ihr gerne über den glänzenden Leib gestreichelt, aber ich kam nicht heran und wusste auch, dass sie das nicht mochte.
»Ich bin auch eine.«
So gut es ging, legte ich mich auf die linke Seite. »Du hättest Klaus gemocht, er war immer freundlich zu Spinnen.«
Während ich die Augen schloss, wurde ich nachdenklich. »Wenn die Polizisten dich suchen, lassen sie Klaus hoffentlich in Ruhe. Seit er nicht mehr so fürchterlich riecht, kann ich wieder neben ihm schlafen. Es wäre schade, wenn sie alles durcheinanderbringen.«
Ich spürte, wie sie es sich gemütlich machte und sich mit ein paar Haaren zudeckte. »Frohe Weihnachten, Walpurgia.«
"Walpurgia" ist 2014 in der Anthologie
Aus dunklen Federn erschienen.
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